Corpsstudenten haben herausragende Beiträge zu Wissenschaft und Forschung geleistet. Vier von ihnen erhielten dafür sogar den Nobelpreis. Emil von Behring, Karl Ferdinand Braun, Wilhelm Friedrich Ostwald und Rudolf Eucken.
Robert von Lucius
CORPS - Das Magazin Ausgabe 2/2025
Retter der Kinder und das Prinzip vom kleinsten Zwang. Vier Corpsstudenten und Nobelpreisträger wie Emil von Behring und Ferdinand Braun prägen unser Alltagsleben.
Vier Corpsstudenten – gerecht verteilt auf Kösener, Weinheimer und ein baltisches Corps – sind Träger der höchsten Auszeichnung, die ein Wissenschaftler erträumen darf. Zwei von ihnen sind fast jedem gewärtig und haben die Medizin, die Gesundheit des Menschen, die Industriegeschichte, das tägliche Leben bis heute geprägt. Zwei dagegen sind auch Gebildeten kaum mehr gewärtig. Auffallend nicht zuletzt, dass alle vier Nobelpreise an Corpsstudenten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Stockholm verliehen wurden, nach 1909 aber keiner mehr.
Der erste Nobelpreis für Medizin ging 1901 an Emil von Behring. 1908 wurde Rudolf Eucken der Nobelpreis für Literatur verliehen, 1909 Karl Ferdinand Braun der Nobelpreis für Physik und Friedrich Wilhelm von Ostwald jener für Chemie. Einig sind allen vieren eine unermüdliche Schaffenskraft, eine Bereitschaft zu ehrenamtlichen Einsätzen und eine Breite des Interesses auf vielen Gebieten mit beständigen Grenzüberschreitungen.
Emil August Behring (1854–1917, aktiv 1874), ab 1901 von Behring, war Immunologe, Serologe und Unternehmer. Als Begründer der passiven Schutzimpfung (Blutserumtherapie) entwickelte er Arzneimittel gegen die Diphtherie. Diphtherie war Anfang des 20. Jahrhunderts als Infektion der oberen Atemwege noch die Haupttodesursache bei Kindern – die Infektionskrankheit galt damals als „Würgeengel der Kinder“. Die Häufigkeit der Erkrankung ging durch die von Behring eingeführte passive Impfung mit Serum ab 1893 und die Fortentwicklung durch den Franzosen Gaston Ramon im Ersten Weltkrieg, die Impfstoffe haltbarer und sicherer machte, stark zurück. Noch während des Zweiten Weltkrieges bot Diphtherie eine bisher letzte große Epidemie mit drei Millionen Erkrankungen. Eine zweite große Wohltat für die Menschen war dem Corpsstudenten mit der Entwicklung des Antitoxins gegen Wundstarrkrampf (Tetanus) zu verdanken. Das brachte ihm im Ersten Weltkrieg den weiteren Ehrentitel ein als „Retter der (verwundeten) Soldaten“. Spätestens nach einem Hundebiss sollte jeder gegen Tetanus geimpft werden.
Die drei Pépinière-Corps an der Akademie für das militärärztliche Bildungswesen (es bildete sämtliche preußische Militärärzte aus) in Berlin, unter ihnen Behrings Suevo-Borussia, verlegten ihren Sitz 1919 nach Hamburg. 1976 suspendierte die Suevo-Borussia wegen Nachwuchsmangels und schloss sich mit der Guestphalia Marburg zusammen, die seitdem Corps Guestphalia et Suevoborussia Marburg (im Kösener) heißen oder auch Westfalen und Schwabenpreußen oder, ausschließlich in Marburg, wegen ihrer schwarzen Kneipmützen schwarze Westfalen.
Emil von Behring war seit 1874 Mitglied, später Ehrenmitglied der Schwabenpreußen. Es mag Zufall sein, dass sein Corps fast genau hundert Jahre nach seiner Aktivität seine Heimstätte fand in Marburg, dem Ort, an dem der vielfach ausgezeichnete Mediziner als Professor der Hygiene und Bakteriologe lehrte. Sein Corps ehrt ihn nicht zuletzt mit einem Foto im Aufgang oberhalb des „schrägen Zimmers“. Behring war nicht nur Forscher, sondern auch Unternehmer. Der Pharmastandort Behringwerke Marburg mit mehr als 7.000 Beschäftigten bietet Raum für viele Biotechnologieunternehmen. Es ist der einzige auf Biotechnologie und Pharmaproduktion spezialisierte Standortbetreiber. Zu den Unternehmen zählt der weltweit aktive Pharmaproduzent CSL Behring GmbH. Der australische Spezialist für Blutplasma hat einen Jahresumsatz von etwa 15 Milliarden US-Dollar. CSL Behring hat, wie es sich bei einem Corpsbruder der Suevo-Borussia gehört, seinen Sitz in der Kleinstadt King of Prussia im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania nordöstlich von Philadelphia – benannt nach einer früheren Kneipe mit einem Foto von Friedrich dem Großen. Die Wurzeln des Unternehmens gehen zurück auf Behring; es ist seit mehr als 100 Jahren, also noch zu Lebezeiten Behrings, führend in der Erforschung und Entwicklung von Biotherapeutika. Emil von Behring gründete 1904 die Behringwerke, einen der größten Arbeitgeber der Region. Zuvor hatte er ab 1892 von den Farbwerken vorm. Meister Lucius & Brüning in Höchst das Diphtherieserum produzieren und vertreiben lassen. Beigesetzt wurde Behring, als größter Grundbesitzer in Marburg, in einem Mausoleum auf der Elsenhöhe. Von dort hat man einen Blick auf das Landgrafenschloss in Marburg, den Behringkrater, den Behring-Gutshof und die Behringwerke.
Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass gleich zwei seiner Corpsbrüder im Pépinière-Corps Suevo-Borussia, Erich Wernicke und Friedrich Löffler, ähnlich bedeutende Bakteriologen waren. Friedrich Löffler (1852–1915, aktiv 1872) war als Mitarbeiter von Robert Koch einer der weltweit führenden Bakteriologen und später Direktor des Robert-Koch-Instituts. Löffler – ebenso Ehrenmitglied der Suevo-Borussia sowie Schleifenträger der Guestfalia Greifswald – wurde als Entdecker des Erregers der Maul- und Klauenseuche in der Tiermedizin der erste Virologe. Das nach ihm benannte Friedrich-Loeffler-Institut nahe Greifswald ist das erste Tierseuchen-Forschungsinstitut. Erich Wernicke (1859–1928, 1880 Schleifenträger der Suevo-Borussia) war Assistent und Stellvertreter Behrings in Marburg und entwickelte zusammen mit ihm das therapeutische Serum gegen Diphtherie.
Auf anderem Feld hat Ferdinand Braun (1850–1918) unser tägliches Leben über Jahrzehnte hinweg nachhaltig geprägt – Fernsehen und Hörfunk, Telegrafie und vieles andere dank der Forschungen des Experimentalphysikers, der wie Behring und stärker noch als er seine vielfältigen Entdeckungen industriell umsetzte, etwa im von ihm mitgegründeten Konzern Telefunken.
Der Schleifenträger der Teutonia Marburg forschte maßgeblich zur Thermodynamik, Elektrochemie und zu elektrischen Instrumenten. Zu seinen wichtigsten Erfindungen zählten der Gleichrichtereffekt bei Halbleitern, die Braunsche Röhre und der gekoppelte Sender in der drahtlosen Telegrafie, für den er mit dem Italiener Guglielmo Marconi zusammen den Nobelpreis erhielt; erst mit Brauns Fortentwicklungen am Sender und Empfänger war die Telegrafie auch über den Atlantik nutzbar. Die Verleihung 1909 erstaunte die Fachwelt, weil in Stockholm erstmals nicht nur grundlegende Entdeckungen gewürdigt wurden, sondern auch deren technologische Umsetzung. Mit der nach ihm benannten Elektronenstrahlröhre, die bis vor zwei Jahrzehnten Fernsehern ihre äußere Form gab, begann 1897 das Radio- und Fernsehzeitalter. Wie weitsichtig Braun war, zeigt sich etwa in der Halbleitertechnik, die Brauns Grundlagenforschung – wie die Corpszeitung der Teutonia 2010 vermerkt – Jahrzehnte später in der Halbleiterforschung umsetzen konnte. Braun war Urvater der Halbleiterforschung. Ohne Halbleiter, Mikroelektronik und Computerchips sind unser Alltag und unsere Industrie nicht mehr vorstellbar. Auch in der Medizin- und Messtechnik, in der See-, Luft- und Raumfahrt werden Brauns Erkenntnisse noch heute umgesetzt. Das von Braun und einem französischen Chemiker 1887 entwickelte Le-Chatelier-Braun-Prinzip wird zudem im täglichen Aktivenleben vor allem von Füchsen ständig umgesetzt, das aus der Chemie fortentwickelte „Prinzip vom kleinsten Zwang“.
Der Conkneipant der Teutonia Marburg (1868/69), dem die Marburger Teften wohl unter Einfluss seiner beiden Brüder Philipp und Adolf 1878 die Corpsschleife verliehen, kehrte nach zahlreichen anderen Professuren zeitweise nach Marburg zurück, das ihn 1877 als Professor für Theoretische Physik ernannte. Sein früher Fortgang aus Marburg beruhte wohl auf seinen früh erkannten brillanten Fähigkeiten, die gefragt waren.
Friedrich Wilhelm Ostwald (1853–1932) war nicht nur Begründer der Physikalischen Chemie, sondern auch umtriebiger Gründer von Zeitschriften, Buchreihen und Organisationen, und Wissenschaftsorganisator. 16 der 280 Titel in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften bearbeitete er selbst. Er war der erste Vorsitzende der von ihm mitgegründeten Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft, heute die Deutsche Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie. Vor 120 Jahren sagte er in Vorträgen den künftigen Einsatz von Brennstoffzellen und von Sonnenenergie voraus. Ostwald wirkte an der Festsetzung der Atomgewichte mit und war Präsident der „Internationalen Assoziationen der chemischen Gesellschaften“. Dank seiner Erfahrungen als praktischer Maler entwickelte er ein wissenschaftlich fundiertes Farbsystem, auch im Auftrag des Deutschen Werkbundes, einer Vereinigung von Künstlern, Architekten und Unternehmern – er wollte damit Industrie und Handwerk Nutzen bringen. 1911 gründete und leitete Ostwald als Vorsitzender die Vereinigung „Die Brücke – Internationales Institut zur Organisation der geistigen Arbeit“, die das gesamte bekannte Wissen katalogisieren und organisieren wollte. Die Brücke warb für ein Weltformat für Druckerzeugnisse, Grundlage für das spätere Papierformat. Aufgrund seines Wirkens im Kreise von Schülern aus aller Welt setzte er sich ein für eine Welthilfssprache – daraus entstand Esperanto. Seine Vorträge in den Vereinigten Staaten, dort lehrte er an Harvard, führten binnen Kurzem zur Gründung von hundert Esperanto-Clubs in Nordamerika. Ostwald forderte die Abschaffung von Staatskirchen und lehnte Eingriffe der Kirchen in die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ab. Wiewohl Werber für Frieden – Krieg sei Energieverschwendung, sagte der Vertraute von Bertha von Suttner –, trug er wie Braun, Behring und Eucken den im Ausland umstrittenen Aufruf deutscher Wissenschaftler zum Kriegseintritt vor dem Ersten Weltkrieg mit. Seinen Nobelpreis für Chemie erhielt Ostwald 1909 für seine Arbeiten über die Katalyse sowie über Reaktionsgeschwindigkeiten und Gleichgewichtsverhältnisse.
Während seines Chemiestudiums in Dorpat (heute Tartu, in Estland) war Ostwald aktiv in der deutschbaltischen Studentenverbindung Fraternitas
Rigensis, in der der ebenfalls bekannte Wirtschaftshistoriker und Sozialreformer 1872 Wilhelm Stieda sein Conaktiver war. Seine Geburtsstadt Riga erinnert an den Universalgelehrten, der diesen Titel wie wenige verdient, im Stadtzentrum mit einem von der lettischen Präsidentin eingeweihten Denkmal. Seine Baltische Corporation Fraternitas Rigensis verlegte 1921 ihren Sitz von Dorpat nach Riga. Die Aktivitas löste sich mit dem Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt und der erzwungenen Umsiedlung 1939 auf, die Philister trafen sich noch bis 1998. Die baltischen Korporationen wie Ostwalds Fraternitas Rigensis fühlen sich nicht nur historisch der Welt der Corps zugehörig.
Der Einzige der vier Corpsstudenten, der einen Nobelpreis nicht als Naturwissenschaftler erhielt, war Rudolf Eucken (1846–1924) – und wie Ostwald war er jemand, dessen Ideen auf vielen Gebieten sprudelten. Schon die Begründung für seinen Literatur-Nobelpreis 1908 ist ungewöhnlich: „Aufgrund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks“. Er erhielt sie für seine philosophischen Ideen und seine Weltanschauung, die schon zu seiner Zeit umstritten war. Er galt unter Fachkollegen als Außenseiter, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts aber wurde er im Bildungsbürgertum in ganz Europa stark gelesen. Rudolf Eucken (Vater von Walter Eucken, Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft) begründete einen nachkantianischen Neu-Idealismus. Er lehrte Philosophie in Basel und in Jena.
Eucken wurde 1863 Mitglied der damals freien Verbindung Frisia in Göttingen, verließ sie vorübergehend und wurde 1875 deren Ehrenmitglied. Heute ist die Frisia ein Weinheimer Corps. Der gebürtige Auricher fühlte sich stets auch landsmannschaftlich als Friese. Seinem Corps schrieb er – wie die Friesenzeitung 1927 berichtet – als Dank für dessen Glückwünsche zum Nobelpreis: „Für alles, was friesisch denkt und fühlt, muss es eine Freude sein, dass bisher der literarische Nobelpreis in Deutschland nur Friesen zuteilwurde, 1902 dem Nordfriesen Mommsen, mit dem ich mich freilich nicht messen darf, und jetzt mir, dem Ostfriesen“. An der Fassade des Friesenhauses in Göttingen erinnert eine Gedenktafel samt Zirkel an Rudolf Eucken.
Robert von Lucius Saxo-Borussiae, Borussiae Bonn IdC
Robert von Lucius, geb. 1949 in Berlin, wuchs dank des diplomatischen Berufs des Vaters teils im Ausland auf – in Norwegen, Südafrika, Namibia. Nach Jurastudium in Heidelberg und Bonn war er an der Universität Bonn tätig am Kirchenrechtlichen und am Völkerrechtlichen Institut.