Liebknecht Wilhelm
*1826, +1900 Corps Rhenania Gießen, Corps Hasso-Nassovia Marburg, Corps Rhenania Straßburg (später Marburg)
MdR, sozialdemokratischer Politiker, Gründer und Chefredakteur des Vorwärts mit Bebel, Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Vater von Karl Liebknecht).
Hans-Jürgen Below Hasso-Nassoviae
CORPS - Das Magazin Ausgabe 2/2020
BISMARCKS ROTER GEGENSPIELER
Das Grabmal Wilhelm Liebknechts, wie es 1902 von dem Dresdener Bildhauer Heinrich May gestaltet wurde. Eisengießer und weibliche Gestalt stellen die Verbindung von Proletariat und Wissenschaft dar.
Wenn von bekannten Corpsstudenten die Rede ist, wird natürlich als Erster immer Otto von Bismarck (1815 - 1898) genannt. Der Reichskanzler war wie sein Zeitgenosse Wilhelm Liebknecht (1826 - 1900) ebenfalls Kösener Corpsstudent. Der eine Reichsgründer und Initiator der Sozialistengesetze, der andere Mitbegründer der SPD, Reichstagsabgeordneter, Chefredakteur des "Vorwärts" - und Opfer dieser Gesetzgebung. Nun gibt es vom Eisernen Kanzler nicht nur bei Hannovera Göttingen Standbilder allerorten, sondern auch Schulen, Straßen und Plätze sind nach ihm benannt. Meinen Corpsbruder Wilhelm Liebknecht aber sucht man vergeblich. Orte und Institutionen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind meist nach Karl Liebknecht (1871 - 1919) benannt. Viele wissen nicht einmal, wie eng die beiden verwandt waren (Wilhelm war der Vater von Karl).
Das mit dem Unwissen war aber nicht immer so. Um das zu zeigen, fangen wir bei der Schilderung seines Lebenskaufs einfach einmal am Ende an, und zwar bei der Beisetzung.
Wilhelm Phillipp Martin Christian Ludwig Liebknecht starb an einem Gehirnschlag am 7. August 1900 in Berlin. Er wurde 74 Jahre alt.
Die Trauerfeier versetzte die Reichshauptstadt in einen kompletten Ausnahmezustand. Bereits an seinem Wohnhaus starteten 20.000 Trauergäste, und im Verlauf des über 15 Kilometer langen Zugs zum Zentralfriedhof in Friedrichsfelde kamen so viele Menschen dazu, dass am Ende sage und schreibe 150.000 Menschen an der Beisetzung teilnahmen.
Hinzu kamen ungezählte Zehntausende, die Berlins Straßen säumten und einem Idol seiner Zeit die letzte Ehre erwiesen. Der gesamte sozialdemokratische Parteivorstand, die SPD-Reichstagsfraktion und teils komplette Ortsvereine aus dem ganzen Reich waren angereist, sämtliche linken Parteien Europas waren vertreten. Vor allem aber unendlich viele der sogenannten kleinen Leute - und natürlich sein Corps, zu dem er die Beziehung nie hatte abreißen lassen. Dass unsere grün-weiß-blaue Fahne den roten Flaggen der SPD vorangetragen worden sein soll, ist aber wohl eine liebenswürdige Fabel, belegt wird das nicht. Aber bestimmt erzählen unsere heutigen Fuchsmajore es nach wie vor unserem Nachwuchs.
August Bebel hielt seine Ansprache auf der größten Trauerfeier, die die Stadt bis dahin gesehen hatte - mit einem mehrspännigen Katafalk, weiteren Wagen mit über 500 Kränzen sowie 13 Kutschen mit Ehrengästen. Für die damalige Zeit hatte das alles eine Dimension, die wohl am ehesten mit dem Trauerzug für Lady Diana im September 1997 in London zu vergleichen ist.
Wer also war dieser Mann, von dem wir leider so wenig wissen? Ich will ein wenig von seinem Leben berichten. Vor allem seine politische Bedeutung einordnen helfen. Und Informationen über den Korporierten Liebknecht dürfen auch nicht fehlen.
Wilhelm Liebknecht wurde am 29. März 1826 in Gießen geboren. Anders als in der DDR-Geschichtsschreibung, die aus jedem Arbeiterführer gerne einen gebürtigen Proletarier machte (was bekanntlich bei Karl Marx und Friedrich Engels auch nicht stimmte), wurde Liebknecht in ein durchaus großbürgerliches Elternhaus geboren: Der Vater war großherzoglicher Regierungsregistrator, der Großvater promovierter Jurist und landgräflicher Regierungsadvokat, sein Urgroßvater Professor und Rektor der Universität Gießen. Bisher also keine Spur von bitterer Armut, die einen jungen Mann vielleicht in die Arme von Kommunismus oder Sozialismus treiben konnte.
Nach der Schule belegte er in Gießen ab dem WS 1843/44 neben Philosophie und Philologie auch Theologie. Hier kam es Anfang August 1846 zu Unruhen, bei denen Liebknecht erstmals als Studentenführer auftrat: Eine polizeiliche Maßnahme gegen einen alkoholisierten Kommilitonen war so weit eskaliert, dass zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung Soldaten aus Butzbach geholt wurden.
Daraufhin organisierten die Studenten einen sogenannten "Auszug" und verlegten den Universitätsstandort demonstrativ symbolisch auf die Burg Staufenberg. In der Folge sah sich Liebknecht gezwungen, die Universität zu wechseln. 1845/46 ging er zunächst für ein Semester nach Berlin und kam dann Ende 1846 zurück nach Hessen, allerdings nach Marburg.
Die Frage, ob er zu diesem Zeitpunkt schon korporiert war, ist leider völlig unklar. Zwar zeigen die allseits bekannte Couleurkarte, alle Wikipedia-Daten (und auch ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch über Verbindungsstudenten in der SPD) neben der Zugehörigkeit zu Hasso-Nassovia immer auch die Zirkel der Rhenania Gießen und einer Eintagsfliege oder besser Zwei-Semester-Fliege namens Rhenania Marburg.
Aber es bestehen berechtigte Zweifel, ob Liebknecht zuvor Rhenane war. Eigentlich ist es nur die Tatsache, dass das irgendwann einmal ohne Quellenangabe auftauchte - und durchaus vernünftig erschien, weil Liebknecht am 12. Januar 1847 in Marburg wohl sofort rezipiert wurde, als er eintrat. Keine Fuchsenzeit. Rhenania Gießen findet sich dementsprechend in unserer ersten gedruckten Corpstafel von 1869. Allerdings wird das 20 Jahre später in einem Nachtrag zur Corpstafel korrigiert - ausdrücklich mit der Bemerkung "früher Rhenaniae Gießen streichen". Klaus Vassel EM als Verfasser der Corpsgeschichte der Hasso-Nassovia schloss daraus mit gutem Grund, dass müsse auf Veranlassung von Liebknecht erfolgt sein, , dem man ein vermeintlich erstes Band nicht gegen seinen Wunsch genommen hätte. Vassels Meinung wird durch die Tatsache gestützt, dass weder der in "Einst und Jetzt" veröffentlichte Corpsbestand der Rhenania Gießen von 1799 bis 1861 noch die Kösener Corpslisten 1798 bis 1910 Liebknecht als deren Corpsbruder nennt.
Ich neige daher dazu, den guten Mann komplett zu vereinnahmen. Die nächste Couleurkarte, die Liebknecht ohnehin mit grüner Mütze zeigt, sollte sich auf den Hessen-Nassauer-Zirkel beschränken. Von Rhenania kann kein Widerspruch kommen. Sie ist schon lange erloschen - seit 150 Jahren, um genau zu sein!
Zurück nach Marburg, denn hier beginnt nun ein wahrhaft abenteuerliches Leben. Eigentlich geht es gleich nach dem Eintritt bei Hasso-Nassovia los. Ich erinnere noch einmal daran: Anfang 1847. Und 1848 war für die deutsche Jugend so in etwa das, was 1968 für die Bundesrepublik bedeutet. Man sprach übrigens lange von den 48ern, so wie wir heute von den Alt-68ern!
Der junge Hessen-Nassauer nimmt also im idyllischen Marburg ein einem öffentlichen "Vivat" für den im Schloss einsitzenden Freiheitshelden Sylvester Jordan teil. Heute wäre der Verfassungsschutz bestimmt in der Nähe. Aber auch damals fällt man auf. Ein Freund warnt Liebknecht vor der drohenden Verhaftung - und dieser verlässt die Stadt Hals über Kopf. Und plant - was in diesen Jahren überhaupt nicht selten war - seine Auswanderung in die USA. Nach Wisconsin sollte es gehen.
Einige neben dem Studium erlernten Fertigkeiten sollten beim Aufbau einer Ackerbau-Genossenschaft helfen. Liebknecht hatte nämlich im Schnelldurchgang zwei kurze Lehren sowohl in Gießen als Zimmermann als auch in Marburg als Büchsenmacher absolviert.
Liebknecht selbst schildert die Abreise aus Marburg in seinen Erinnerungen so: "Mein Entschluss war rasch gefasst. Freund Maus wollte mich begleiten - vielleicht bis Amerika, mindestens bis Rotterdam. Er besorgte sofort einen Wagen, und wir fuhren nach der Hasso-Nassoven-Kneipe, um uns zu verabschieden. In kurzen Worten teilte ich den Korpsbrüdern mit, was geschehen war und dass ich vor der Abreise ihnen noch die Hand habe drücken wollen. Ich hielt mich etwas auf, so dass Maus ungeduldig wurde. "Lebt wohl Brüder!" - "Bruder, leb' wohl!" Und während ich mich nach der Tür wende, erschallt mein Lieblingslied, das ich so oft mit vielem Gefühl und falscher Stimme auf der Korpskneipe gesungen: "Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein! Ade nun, ihr Brüder, geschieden muss sein!" Ich blieb stehen und sang noch das Lied mit. Als die letzten Töne verklungen waren, noch ein hastiges Ade und hinaus in den Wagen, in die dunkle Nacht, in die weite, weite Welt ..."
Aus Amerika wurde aber trotz gründlicher Vorbereitung un dramatischer Verabschiedung nichts. Liebknecht muss ein spontaner Mann gewesen sein. Denn als er auf der Bahnfahrt den Lehrer einer reformistischen Musterschule in Zürich trifft, fährt er kurzentschlossen in die Schweiz statt nach Wisconsin. Neben seiner Lehrerstelle am Föbelschen Institut in Zürich sammelt Liebknecht hier erste journalistische Erfahrungen als Korrespondent der Mannheimer Abendzeitung.
Anfang 1848 nimmt das revolutionäre Geschehen dann ordentlich Fahrt auf: Im Umfeld der Februarrevolution in Frankreich verlässt Liebknecht die Schweiz und geht nach Paris, wo er aktiv aufseiten der Aufständischen kämpft. Noch in Paris schließt er sich der Deutschen Demokratischen Legion an und will sich voll in die Märzunruhen der deutschen Revolution von 1848 stürzen. Jedoch wird er krank, kann nicht, wie geplant, am sogenannten Hecker-Aufstand in Baden teilnehmen - wird dann allerdings auch weder erschossen noch verhaftet. Vielmehr geht er zurück nach Zürich.
Aber im September, der nächste Aufstand lockt, gibt es kein Halten: Liebknecht nimmt am Struve-Putsch in Südbaden teil und wird nach dessen Niederschlagung in Säckingen verhaftet. Die Verlegung nach Freiburg hat ungeahnte Folgen - er verliebt sich in die junge Tochter des dortigen Gefängnisaufsehers. Ernestine wird später seine Frau.
Wieder in der Schweiz, lernt er Friedrich Engels kennen, auch ein Flüchtling der gescheiterten 48er-Revolution. Und es kommt, wie es kommen muss: Die beiden werden 1850 "wegen sozialistischer Umtriebe" ausgewiesen. In Hessen kann er sich auch nicht mehr blicken lassen, so langsam werden die möglichen Wohnsitze knapp.
Liebknecht landet in England, damals beliebtes Ziel deutscher Linker. Der Bonner Landsmannschafter Karl Marx ist auch schon da, mit dem er eng zusammenarbeitet. Marx, Engels und Liebknecht - so sind gleich drei Ikonen der Sozialisten in London. Immerhin zwölf Jahre bleibt Liebknecht im Exil und hält sich als Korrespondent für Zeitungen der Heimat und als Privatlehrer mehr schlecht als recht über Wasser.
Ein Jahr nach der Rückkehr wird es politisch spannend: 1863 wird er Mitglied im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ADAV, einem der Vorläufer der SPD - gegründet vom Breslauer Burschenschafter Ferdinand Lassalle. Hier nun arbeitet er als Redakteur der Parteizeitung "Der Social-Demokrat" und etabliert sich so langsam als Politiker und Publizist. Zahllose Bücher und Beiträge aus seiner Feder sind überliefert.
Lassalle, der später wegen der Affäre mit einer Frau beim Duell mit einem Corpsstudenten ums Leben kommt, vertritt freilich teils andere Auffassungen als Liebknecht. Lassalle ist der typische Großstadtmensch mit Hang zum Extravaganten, Liebknecht wohl bodenständiger und knorriger, kurz: oberhessischer. Er war zudem eher ein Fundi, Lassalle hingegen mehr der Realo.
Ein Beispiel: 1866 gewinnt Preußen den sogenannten Deutschen Krieg gegen Österreich/Bayern/Sachsen. Bei der danach erfolgten Gründung des Norddeutschen Bundes hielten Lassalle und sein ADAV es durchaus mit dem Sozialistengegner Bismarck. Beide bevorzugten eine kleindeutsche Lösung unter Preußens Führung - ohne Österreich.
Liebknecht hingegen wollte auf eine eher föderalistisch angelegte großdeutsche Lösung hinaus und hielt von Bismarck dementsprechend wenig. Erst 1871 sollte es dann zur vergrößerten Reichsgründung kommen. 1866 spaltet sich Liebknecht vom ADAV ab und gründet, da inzwischen in Sachsen lebend, in Eisenach zusammen mit August Bebel die Sächsische Volkspartei (SVP).
Ab 1867 saß Wilhelm Liebknecht als sächsischer Abgeordneter im Reichstag des norddeutschen Bundes, auch schon mit Sitz in Berlin. Interessanterweise hieß Bismarck da noch Bundeskanzler, erst ab 1871 dann Reichskanzler. Falls einmal jemand eine Runde Bier gewinnen will und bei der Frage nach dem ersten Bundeskanzler eine falsche Adenauerfährte legen möchte. Von den 297 Abgeordneten dieses Reichstags waren übrigens weit über 100 Corpsstudenten. Nicht allgemein Korporierte - sondern alles Angehörige Kösener Corps! Der Verband war im 19. Jahrhundert politisch und gesellschaftlich führend.
Liebknechts SVP ging schon drei Jahre später in der SDAP auf, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Nach der Reichsgründung bildete diese zusammen mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von Lassalle die neue SAP. Diese Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands nannte sich nach dem Ende der Bismarckschen Sozialistengesetze ab 1890 dann Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Liebknecht ist also einer der Gründerväter der SPD. Er hat - mit einer kurzen Unterbrechung - von 1867 bis 1900 als Abgeordneter insgesamt fast 30 Jahre im Reichstag gesessen. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund und stand auch als Chefredakteur der 1876 als Zentralorgan der Partei von ihm mitbegründeten "Vorwärts" nicht nur im Fokus politisch interessierter Bürger, sondern auch unter Beobachtung der Behörden.
Eine Reichstagsrede gegen den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 brachte Liebknecht und August Bebel vor Gericht - und sie kassierten beim Leipziger Hochverratsprozess immerhin solide zwei Jahre Festungshaft.
Das war nicht das einzige Mal: Insgesamt 16 Verurteilungen sind dokumentiert, davon ein Dutzend tatsächlich verbüßte Freiheitsstrafen! Noch als 70-Jähriger ging Wilhelm Liebknecht 1896 wegen Majestätsbeleidigung für vier Monate in das Gefängnis von Plötzensee. Insgesamt verbrachte er etwa sechs Jahre seines Lebens in Haft. Man kann sagen, was man will - Rückgrat hate der Mann.