Lothar C. Rilinger Hasso-Borussiae Freiburg
CORPS - Das Magazin Ausgabe 4/2020
EIN UNGEWÖHNLICHES CORPSSTUDENTISCHES LEBEN
Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler war Bischof von Mainz und wegen seines Engagements im Volksmund Arbeiterbischof bekannt.
Als Erzbischof Kardinal Joseph Frings 1955 die katholischen Abiturienten aufforderte, nicht in schlagende Studentenverbindungen einzutreten, sondern in die katholischen, war es wie das letzte Aufflackern einer Gegnerschaft, die sich in scharfen Kirchenstrafen zeigte. Katholiken war es untersagt, in einer schlagenden Verbindung aktiv zu werden, da das Fechten als Duell bezeichnet und als Todsünde angesehen wurde, die nach kanonischem Recht mit der Exkommunikation, also mit dem Ausschluss vom Empfang der Sakramente, geahndet wurde. Doch in dem im Jahr 1983 reformierten kanonischen Recht wird vonseiten der Römisch-Katholischen Kirche die Mensur nicht mehr als Duell klassifiziert, sodass das Schlagen einer Partie nicht mehr als strafbar angesehen wird. Die Mensur gilt aber nach wie vor als sittlich verwerflich, sodass es katholischen Studentenverbindungen untersagt ist zu fechten.
Allerdings haben sich nicht alle katholischen Studenten an dieses kirchliche Verbot gehalten. Selbst Studenten, die später zu Bischöfen geweiht wurden, ließen es sich nicht nehmen, in einem Corps aktiv zu werden. Einer dieser widerspenstigen katholischen Studenten war Wilhelm Emmanuel Freiherr v. Ketteler, der später als Arbeiterbischof berühmt wurde und zur Entspannung der sozialen Frage im Deutschen Reich beigetragen hat. Ihm wollen wir uns nähern, um aufzuzeigen, wie breit gefächert das Corpsstudententum in unserer Gesellschaft verankert ist und welch verschiedene Lebensentwürfe unser Toleranzprinzip ermöglicht.
Wilhelm Emmanuel Frhr. v. Ketteler wurde im Jahre 1811 in eine uradelige, katholische Familie aus dem Münsterland geboren. Da er weichender Erbe war, strebte er eine Laufbahn im preußischen Staatsdienst an und studierte deshalb in Göttingen Rechtswissenschaften. Im Laufe des ersten Semesters kam er mit Standesgenossen, wie es in der Biografie von Otto Pfülf heißt, in Kontakt, die ihn bewegten, im Jahr 1829 im Göttinger Corps Guestphalia das Band aufzunehmen.
Bevor wir uns weiter mit Ketteler beschäftigen, wollen wir einen Blick auf die Geschehnisse dieses Corps werfen. Es leitet sich her von der Landsmannschaft der Westfälinger, die im Jahr 1772 gegründet wurde. Im Jahr 1801 wurde die alte landsmannschaftliche Tradition in das nun neu gestiftete Corps Guestphalia Göttingen über- und dort weitergeführt. Das Corps Guestphalia wurde aber schon 1845 suspendiert. Viele Corpsbrüder schlossen sich der im Jahr 1852 gegründeten studentischen Verbindung Hildesia an. Zwei Jahre später stellte diese Verbindung beim Göttinger Senioren-Convent den Antrag, als Corps in den Kösener Verband eintreten zu können. Dem Antrag wurde stattgegeben. Da viele Mitglieder dieses Corps ehemals im Corps Guestphalia aktiv waren, wurde der Name in Hildeso-Guestphalia geändert. Ketteler ist damit zwar nicht Mitglied des Corps Hildeso-Guestphalia, steht aber in dessen Tradition.
Der junge Ketteler wird von seinem Biograf Pfülf als Student beschrieben, der sich von seinen Leidenschaften hinreißen ließ und in viele Streithändel verwickelt wurde. Diese Lust am Ramschen hinterließ durch ein Duell Spuren, die Zeit seines Lebens auszumachen waren. In einem Wirtshaus saßen einige Corpsstudenten zusammen, als Ketteler dem Bremenser Friedrich Wilhelm Lohmann - später Jurist in Stade - vorwarf, ihm auf den Fuß getreten zu haben. Lohmann stritt die vorgeworfene Tat ab. Es kam zu einem Wortwechsel, der in der Äußerung von Ketteler gipfelte, er fände es sonderbar, dass Lohmann seine Unart nicht einsehen wolle, worauf der Bremenser Ketteler auf 12 Gänge und Schläger forderte. Wenige Tage später wurde die PC ausgefochten. Schon im vierten Gang erhielt Ketteler einen Schmiss und wurde abgeführt. Die Nasenspitze wurde teilweise abgetrennt. Damit war auch die Beleidigung gesühnt. Allerdings verlief die Heilung nicht so wie erhofft, sodass sich Ketteler die Nasenspitze abriss. Seine Mutter konnte ihn aber davon überzeugen, dass dieser Schmiss ausheilen müsse, sodass in Berlin eine Hauttransplantation vorgenommen wurde. Sechs Wochen musste Ketteler seinen Arm vor die Nase halten, damit die Haut des Armes an der restlichen Nase anwachsen könne. Die Operation gelang, doch war die Narbe deutlich zu sehen. Im Übrigen wurde er vom Universitätsgericht wegen des Duells zu einer Karzerstrafe von zwei Wochen verurteilt.
Nach dem Zweiten Staatsexamen trat Ketteler in den Dienst des preußischen Staates ein, der sich nach 1815 Westphalen und das Rheinland einverleibt hatte. Allerdings ließ Ketteler die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August v. Droste zu Vischering an seinem Dienst für Preußen zweifeln. Der Bischof hatte sich öffentlich gegen die von dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. verfügte Regelung gewandt, dass Kinder aus konfessionsverschiedenen Familien entgegen der bisherigen Regelung nach der Konfession des Vaters zu taufen seien. Da viele protestantische Beamte aus dem alten preußischen Staatsgebiet in den Westen gezogen waren und dort heirateten, befürchteten die Katholiken, dass durch diese Politik der Protestantismus stark an Gewicht gewinnen würde. Ketteler war über die Verhaftung erbost und beantragte eine zeitliche Freistellung, um sein weiteres Vorgehen überlegen zu können.
Diese Zeit nutzte er, um nach München, die damalige Hochburg des politischen Katholizismus, zu gehen. Dort stellte er fest, dass er sich zum geistlichen Stand berufen fühlte. Im Jahr 1841 begann er nach langen Prüfungen in München das Studium der katholischen Theologie. Schon 1844 wurde er zum Priester geweiht. Er wäre gerne seinen Pflichten als Bauernpriester im Münsterland nachgekommen, doch die revolutionären Ereignisse aus dem Jahr 1848 ließen seinen Lebensweg eine ganz andere Richtung einschlagen. Ketteler wurde in diesem Jahr in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er dachte großdeutsch, wollte die nationale Einheit und wollte die Freiheitsrechte der katholischen Kirche und damit ihre Unabhängigkeit gegenüber dem preußischen Staat wahren.
Aufgrund seiner parlamentarischen Tätigkeiten wurde er Ende des Jahres eingeladen, im Mainzer Dom sechs Weihnachtspredigten zu halten, die er unter das Thema "Die großen Socialen Fragen der Gegenwart" stellte und die im darauffolgenden Jahr im Druck erschienen sind. Mit diesen Predigten zeigte er auf, was ihn bewegte und welche Fragen er zukünftig zu bearbeiten gedenke. Nach einer kurzen Episode als Probst der St. Hedwigskirche in Berlin wurde er 1850 zum Bischof von Mainz ernannt.
Nach 1848 erstarkte die deutsche Arbeiterbewegung. Vertreter wie Hermann Schulze-Delitzch, der Vater des Genossenschaftswesens, und Ferdinand Lasalle traten für die Rechte der Arbeiter ein. Bischof v. Ketteler griff diese Bestrebungen auf, unterstützte die Initiativen von Adolf Kolping, der sich der katholischen Wanderlehrlinge annahm, erkannte aber auch, dass sich die Römisch-Katholische Kirche in diesen sozialen Diskurs einschalten müsse. Um gehört zu werden, veröffentlichte Ketteler 1864 sein Buch "Die Arbeiterfrage und das Christenthum". Die materielle Frage der Arbeiter ordnete er als eine Frage der christlichen Liebe ein, indem er darauf hinwies, dass Jesus Christus durch seinen Tod nicht nur die Seelen erlösen wollte, sondern er habe sich auch um des irdischen Heils der arbeitenden Personen selbst geopfert. Jesus Christus habe das Sklaventum, das traditionell für die körperliche Arbeit zuständig war, verurteilt und alle Menschen als imago Dei bezeichnet mit der Folge, das die körperliche Arbeit der geistigen gleichgestellt worden sei. Deshalb könne die bedrückende Lage der Arbeiterschaft, der modernen Sklaven, nicht hingenommen werden. Mit diesen Äußerungen zeigte Ketteler große Sympathie für die Lehren von Lasalle und seinen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Er wandte sich damit gegen die Reformvorschläge der liberalen Partei und wurde infolgedessen als ein ins Katholische übersetzter Lasalle angesehen. Der Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn hat 1887 festgestellt, dass Ketteler einen katholischen Sozialismus zu schaffen gedenke, um dadurch die sozialistische Bewegung ins römisch-katholische Fahrwasser zu lenken.
Bischof v. Ketteler hat sich auch Gedanken über die Verteilung des Gewinns gemacht. Lasalle hat noch gefordert, dass der Reingewinn eines Unternehmens dem Kapitaleigner zustehen müsse, doch Ketteler ging einen Schritt weiter: Da der Arbeiter nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine Gesundheit dem Arbeitgeber zur Verfügung stelle, müsste er ebenfalls am Gewinn beteiligt werden. Um den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, am Unternehmensgewinn zu partizipieren, wurde die Gründung von Produktivassoziationen überlegt, die dann Miteigentümer der Unternehmen werden sollten. Dieser Gedanke scheiterte aber daran, dass die Arbeiter nicht das notwendige Kapital aufbringen konnten. Deshalb wurde darüber nachgedacht, ob der Staat diese Mittel zur Verfügung stellen müsse. Diesem Gedanken stand Ketteler skeptisch gegenüber und fragte, ob der Staat das Recht habe, die Staatsmittel in dieser Art zu verwenden. Und er fragte weiter, ob das Parlament, das in der Mehrheit aus Besitzlosen besteht, das Recht habe, durch Mehrheitsbeschlüsse das Eigentum der Besitzenden zu besteuern. Mit diesen Bedenken stellte sich der Bischof deutlich gegen die sozialistische Forderung und verteidigte das Rechtsinstitut des Privateigentums. Allerdings forderte er eine Einschränkung des Eigentumsrechts, das in der modernen Rechtssprache als Sozialpflichtigkeit bezeichnet wird und eine unbeschränkte Nutzung des Eigentums ausschließt.
Noch einmal kommt Ketteler in späteren Jahren auf die Hilfe des Staates für den Arbeiterstand zu sprechen. Anlässlich des Stiftungsfestes des Katholischen Gesellenvereins in Mainz 1865 setzte er sich für die staatliche Hilfe ein und betonte in den folgenden Jahren wiederholt, wie wichtig die Klärung der Arbeiterfrage sei. Mit Gründung des Deutschen Reichs 1871 trat die soziale Frage für ihn in den Hintergrund. Der Kulturkampf entbrannte. Die Kraft des Bischofs wurde nun gebunden, um die Kirche durch diesen Konflikt führen zu können. Er wurde 1871 in den deutschen Reichstag gewählt, um dem Deutschen Reich eine freiheitliche Verfassung zu geben, gab das Mandat aber schon 1872 zurück.
Seine letzte sozialpolitische Publikation erschien 1873 unter dem Titel "Die Katholiken im Deutschen Reich. Entwurf zu einem politischen Programm". Mit dieser Schrift setzte sich Ketteler endgültig für eine staatliche Sozialgesetzgebung ein, die dann zur Grundlage des modernen Sozialstaates wurde.
Auf der Rückfahrt aus Rom 1877 verstarb der Corpsstudent und Bischof v. Ketteler in seinem 65. Lebensjahr.