Nachruf auf AHIdC Eckart Hubert Drössler IV
Liebe Corpsbrüder
Mein Vater hatte seit über 10 Jahren COPD, zuletzt im fortgeschrittenen Stadium. In den
letzten 5 Jahren hat er immer wieder schwere Erkrankungen überraschend gut überwunden.
Am 11. März musste er wegen zweier Entzündungen ins Krankenhaus, dort ist er dann am
17. März im Beisein unserer Mutter verstorben.
Ich hatte in den letzten 10 Jahren, in denen mein Vater bei mir im Hause wohnte, viel Zeit
mit ihm zu reden und über das, was er mir erzählt hat, nachzudenken. Es gibt sehr viele
Erinnerungen, schöne und traurige.
1930 wurde mein Vater in eine verirrte Gesellschaft und verblendete Kultur hineingeboren,
in der Stärke, Tapferkeit und Gehorsam sehr viel mehr galten als Einfühlungsvermögen,
Persönlichkeitsentwicklung und Bildung. Wohin diese Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit
führte, war bald zu erkennen. Schon in seinem 8. Lebensjahr löste diese Geisteshaltung den
zweiten Weltkrieg aus. Die Nationen wurden so sehr aufeinander gehetzt, dass er einmal
zusehen musste (in Schlesien, in den Sommerferien bei den Großeltern), wie tschechische
Jugendliche seinen Freud Günther zu Tode steinigten. Weil er Deutscher war. Meinen Vater
hatten sie zum Zusehen an einen Baum gebunden.
Nach seinem 14. Geburtstag wurde er zur Reichswehr eingezogen. Nur für den Nachschub
hieß es. Beim Zusammenbruch der Ostfront und in dem chaotischen Rückzug gerieten die
jungen Kerle aber dann doch in die erste Linie. Die Pimpfe, wie sie hießen, versuchten, mit
Panzerfäusten russische Panzer aufzuhalten. Ein Granatsplitter hat meinen Vater skalpiert,
Stahlhelme haben die kleinen Helden keine bekommen.
Nach seiner Rückkehr nach Wien war nach einem Bombenangriff die elterliche Wohnung
plötzlich weg. Vom Erdgeschoss und dem ersten Stock standen noch Ruinen, die oberen
Geschosse mit der elterlichen Wohnung fehlten vollständig. Man schlüpfte bei Verwandten
unter, aber nicht lange, dann fiel diese Wohnung auch den alliierten Bomben zum Opfer.
Es folgte eine dreieinhalbtägige Reise nach Hallstatt in Oberösterreich zurück zu Freunden
aus früheren Zeiten. Die Reise dauerte deswegen so lange, weil die Reisenden immer wieder
in Gräben neben dem Bahndamm Deckung suchen mussten, weil der Zug von Tieffliegern
beschossen wurde. Oder weil nach Bombenangriffen die Bahnstrecke erst notdürftig
repariert werden musste, damit der Zug weiterfahren konnte. Oder weil er zum Schutz
immer wieder in einen Tunnel zurückfahren musste.
Nach Ende des Krieges, zu seinem 15. Geburtstag im November 1945, war er schon so etwas
wie ein Kriegsveteran. Sein älterer Bruder und er mussten die Familie versorgen, nämlich
die Mutter und drei jüngere Brüder. Der Jüngste, Hans, war erst im Jänner 1945 geboren
und noch kein Jahr alt. Wohnen durften sie in einer Waschküche und in einem Kellerraum
bei Freunden in Hallstatt.
Wenn wir, seine Kinder, die nachfolgende Generation, heute die Lieder unserer Kindheit und
Jugend singen, dann kommt Freude auf, unsere Mutter summt oder singt mit, unsere Kinder
singen mit, weil sie die Lieder längst kennen. Mein Vater durfte die Lieder seiner Kindheit
und Jugend nie singen, sie stehen in unmittelbarer Verbindung mit Angst und Unheil und
sind teilweise verboten. Der Nationalfaschismus hatte den Jugendlichen seines Alters nicht
nur Kindheit und Jugend gestohlen und sie dafür in Lebensgefahr gebracht, sondern auch
die Erinnerungen daran verboten.
Und mir, einem, der sehr schöne Erinnerungen an Kindheit und Jugend hat, tut das bis heute
unendlich leid. Er war ein liebevoller Mensch und ich hätte ihm Besseres gewünscht.
Uns, der nächsten Generation, erging es ganz anders. Ich habe meine Kindheit und Jugend
in Haus und Garten meiner Eltern in Seegraben damals als normal empfunden. Erst später,
im Rahmen einiger Erwachsenenseminare, in denen andere Gleichaltrige aus ihrer Kindheit
und Jugend und von ihrem Elternhaus erzählten, aus dem sie frühestmöglich ausgezogen
sind, konnte ich erkennen, dass unsere Kindheit und Jugend nicht das Normale waren,
sondern etwas sehr Schönes, etwas Besonders. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar.
Mein Vater hat die ersten 20 Jahre seines Lebens sicher nicht unbeschadet überstanden, in
den darauffolgenden 70 Jahren ließ er uns das aber nicht spüren. Ich habe sehr viele schöne
Erinnerungen. Das Kinderhaus im Garten, bei dem ich schon mit bauen durfte, in dem wir
später geschlafen haben, um mitten in der Nacht mit der Taschenlampe auf Igel-Suche zu
gehen, der Schneehügel vor dem Küchenfenster, auf dem wir Schifahren lernten, die Urlaube
in der Südsteiermark und in Kärnten, die immer wenigstens drei Wochen lang sein mussten,
die Arbeit an meinem Studierzimmer in der ehemaligen Waschküche mit den selbstgebauten
Möbeln und vieles mehr.
Wir lernten auch alle drei das Autofahren bei ihm. Eines Tages fuhr ich schon ziemlich
selbstsicher im Rückwärtsgang durch den Garten, eher forsch als vorsichtig und streife den
Kirschbaum. Das Auto war über die halbe Länge beschädigt. Mein Vater sagte nichts, als er
das Auto dann aus der Reparatur holte, ließ er es vor dem Haus stehen, gab mir den
Schlüssel und sagte: „Fahr du es in die Garage, aber vorsichtig.“ So war er.
Unvergessen ist auch das Sonntagsfrühstück. Normalerweise dauerte es bis Mittag,
manchmal länger. Heute würde dieses regelmäßige Treffen „Familienkonferenz“ heißen. Wir
– als wir alle drei ins Gymnasium gingen – hatten (damals wie heute) viel zu sagen zu
unserer Gesellschaft und zu Gott und unserer Welt, in der wir lebten. Oft waren es noch
naive Ansichten, aus ersten Erkenntnissen oder erster Empörung heraus. Unsere Eltern
waren immer zu Diskussion bereit, nie gab es ein „lass mich in Ruh mit dem Blödsinn“ oder
Ähnliches.
In der guten Zeit wurde er in unser Corps und in das Corps seines Vaters als Inhaber der
Corpsschleife aufgenommen. Das erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Ich danke allen meinen
Corpsbrüdern von Herzen, die damals diesen Beschluss gefasst hatten. Überschattet war
dieses Verhältnis dann leider durch eine Kritik an ihm nach Fertigstellung der
Corpshaussanierung damals in den 80er Jahren, die er in der Pension noch betreute. Seither
war das Verhältnis zu seinem Corps sehr abgekühlt.
Und in jüngster Zeit kamen seine alten Erinnerungen nochmal hoch und verdichteten sich
auch. Als wir zum Beispiel bei Bohnen bei Tisch saßen und über deren
Zubereitungsmöglichkeiten sprachen, sagte er plötzlich: „Mein Bohnengarten ist über drei
Häuser geflogen“. Die Familie hatte damals in Wien in einem Innenhof einen Garten. Er hatte
dort Stangenbohnen gesetzt. Nach einem Kettenbombenangriff war dort nur noch ein Loch,
die Bohnenstangen fanden sie dann drei Straßen weiter.
Traurig ist es auch, dass er Laura und ihre Buben nicht mehr sehen konnte. Laura kommt
mit ihrer Familie in 2 Monaten aus Australien über den Sommer zu uns, sie hat gerade ihre
dritte Babypause. Ihre jüngsten zwei, Otto und Caspar, kennen wir bisher nur aus
Videotelefonaten. Corona und die Lockdowns hatten alle Reisen unmöglich gemacht. Vati
hat oft nach ihr gefragt und ich versuchte ihm klarzumachen, dass er die nächsten Monate
noch fit bleiben muss, weil sie ja kommen werden. Das ist leider nicht mehr gelungen.
Aber jetzt, lieber Vati, bist du frei. Du kannst schmerzfrei und ohne Einschränkungen gehen
oder fliegen, wohin du willst. Du kannst gleichzeitig bei deinen Urenkeln in Basel sein, und
bei den Australiern auf Scotland Island und zu Hause bei Mutter. Und alle werden dich
spüren, wenn du bei ihnen bist. Hab’s gut da drüben und sei nicht traurig, es ist nur eine
Frage von ein paar Jahren, dann sind wir alle wieder bei dir.
Fiducit.
Eckart Drössler III
2022-03-29