Quelle: Wiener Zeitung Extra, Samstag, 21. Oktober 2006
AH Karl Scheichbrein
geb. 21.06.1918, gest. 1994
Frankonia Budapest, Hansea Wien, Erz Leoben
Im Oktober 1956 brachte der Wiener Karl Scheichbrein mit seinem Privatauto Blutkonserven und Medikamente ins aufständische Ungarn. 1991 fuhr er die Strecke noch einmal.
„Wir stehen hier im Niemandsland von Österreich und Ungarn. Und wir erleben hier einen erregenden Augenblick... Jetzt seh' ich eine große Menschenmenge jenseits des Bahndammes vorüberziehen. Sie tragen an der Spitze ungarische Fahnen - rot, weiß, grün... Es werden immer mehr Menschen, die da aus dieser Enge herauskommen, die ich von hier aus überblicken kann...”
Immer eindringlicher klingt die Stimme des österreichischen Radioreporters. „Ja, das habe ich 56 im Radio gehört", sagt der alte Herr und presst den Tabak mit einem Finger fest in die Pfeife. Aus dem Kassettendeck des Autoradios quengelt die Tonkonserve einer Radiosendung. Der Daumen bleibt im Tabak, die Pfeife kalt. Für Karl Scheichbrein ist es jetzt nicht die Zeit zu rauchen, sondern zu lauschen, sich zu erinnern.
24. Oktober 1956...
„...Ein kalter und klarer Morgen liegt über Budapest, und die Sonne versucht sich Bahn zu brechen in dieser Stadt, die gespenstisch noch aussieht, gerade am frühen hellen Morgen... Budapest arbeitet noch nicht... Und hier an einer Ecke Budapests... hier haben sie die Reste des Stalin-Denkmals hergeschleppt, und da sind die Budapester Bürger dabei mit Sägen und mit Feilen das, was von diesem Stalin-Denkmal übrig ist, zu zersägen und zu zerschlagen..."
Feuerwehr, Rotes Kreuz, Zollbeamte am Schlagbaum in Nickelsdorf. Ratlos schauen die Österreicher hinüber nach Ungarn. Unter ihnen Karl Scheichbrein, 39 Jahre alt, Vertreter einer Firma für „Bleche en Gros" für Niederösterreich und Burgenland, auf der Durchfahrt. Die kommunistische Sicherheitspolizei soll das Feuer auf die Demonstranten eröffnet haben, wird erzählt. „Die armen Ungarn!", jammert ein Feuerwehrmann, „Und keiner hilft ihnen!" Ein Wagen des Deutschen Roten Kreuzes kommt. Er hat Blutkonserven geladen. „Fahren Sie doch hinüber! Da werden Sie gebraucht!" ruft Scheichbrein dem Fahrer zu. Der weigert sich. Ist ihm wohl zu gefährlich. „Dann geben Sie die Blutkonserven mir!" fordert Scheichbrein. Sein VW-Käfer wird vollgeladen.
Genau 35 Jahre später, Ende Oktober 1991, passiere ich mit Karl Scheichbrein abermals die Grenze bei Hegyeshalom/Nickelsdorf. Die Ladung diesmal: Schmales Gepäck, Kassetten mit Radioreportagen von damals und jede Menge Erinnerungen. Scheichbrein ist seit 1956 nie mehr im kommunistischen Ungarn gewesen.
Der VW mit den Blutkonserven erreicht das ungarische Zollhäuschen. „Großartig! Hast Du noch mehr davon?" Der Kommandant der Zollwache küsst Scheichbrein auf beide Wangen. „Du bist ein guter Freund!" Dreimal noch fährt der VW durchs Niemandsland und transportiert Blutkonserven.
„Lieber Freund, es ist besser, Du fährst gleich weiter nach Györ ins Krankenhaus.” In Györ, der alten Stadt Raab, soll es schon 70 Tote und unzählige Verwundete geben. Scheichbrein hat keinerlei Papiere bei sich. Der Kommandant gibt ihm einen seiner Leute mit, einen Zöllner, der zum Milizionär der Revolution geworden ist. Dieser nimmt am Beifahrersitz Platz, eine MP zwischen die Beine geklemmt. Auf der Straße nach Györ winken die Menschen jedem Auto mit österreichischem Kennzeichen zu. „Wir grüßen alle Österreicher! Schönen Dank!" ruft ein Mann ins Radiomikrophon.
„Viel hat sich nicht verändert, nur die Straße ist breiter geworden", sagt Karl Scheichbrein. Ich reiche ihm ein Streichholz - seine Pfeife ist ausgegangen.
Noch zweimal fährt er an ein und demselben Tag zwischen der Grenze und Györ hin und her, stets schwer beladen. Dann die Bitte: „Fahren Sie doch nach Komorn! Dort sind die Kämpfe noch härter, die Not noch größer." Zurück in Wien, Blutkonserven nachfasssen. Das Rote Kreuz verweigert Scheichbrein vorerst den Berechtigungsausweis für Transportfahrten. Denn er ist ja kein Mitglied! „In der Zwischenzeit bin ich's geworden", sagt der alte Herr lachend.
Trotz aller Widrigkeiten fahren Scheichbrein und zwei andere Männer mit einem VW-Bus und zwei VW-Käfer von Wien aus los. Die Ausfallstraße, der Rennweg, ist an diesem Tag heillos verstopft. Ein Polizist auf einem Motorrad versucht sich an Scheichbreins Wagen vorbeizuschummeln. „Können Sie mir nicht helfen? Ich muss dringend mit einer Hilfslieferung nach Ungarn!" - „Wie soll ich Ihnen helfen? Ich habe keinen Auftrag." - „Glauben Sie etwa, ich habe einen Auftrag, Blutkonserven nach Ungarn zu bringen?!" Kurzes Nachdenken, dann lotst die „Weiße Maus" den Käfer mit Folgetonhorn an der ganzen langen Kolonne vorbei bis zum Zentralfriedhof.
Es dauert eine Weile, ehe wir in Komorn das kleine Spital wiederfinden. Im ganzen Haus spricht niemand Deutsch oder Englisch. Man holt einen Oberarzt, einen älteren Herrn. Erstaunlich! Er erkennt Scheichbrein - und dieser ihn! Sie fallen einander in die Arme. Es ist derselbe Mediziner, der 35 Jahre zuvor als junger Assistenzarzt die Blutkonserven entgegengenommen hat!
„Alle Seiten haben wir hier beherbergt und gepflegt”, schildert Dr. Joszef Szendrenyi, „Russen, Ungarn, Kommunisten, Aufständische - sogar zwei Sekretäre von Kardinal Mindszenty". Da erinnert sich Scheichbrein, dass ihn an der österreichischen Grenze ein Monsignore angefleht hatte, Mindszenty und den Fürsten Esterhäzy zu suchen, zu befreien und nach Österreich zu bringen.
Dr. Szendrenyi erzählt von seinem Kollegen, der, zu einer Geburt gerufen, beim Überqueren der Straße tödlich getroffen wurde, in die Knie sank und stundenlang in dieser Stellung verblieb.
Anfang November...
„...Am frühen Morgen ist Budapest ein richtiger Ameisenhaufen... Die Menschen kommen jetzt auf die Straße, um zu sehen, was passiert. Fahrzeuge fahren kreuz und quer. Lautsprecher sind aufgestellt, und eine Sprecherin fordert gerade, alle politischen Gefangenen freizulassen - es sind über 20.000. Die Budapester sind frei. Es ist keine überschäumende Freude, aber sie wissen, dass sie nun ihr Schicksal frei bestimmen können..."
Karl Scheichbrein ist auf dem Weg nach Budapest, denn in der Hauptstadt wird Hilfe am dringendsten benötigt. Um vier Uhr morgens wird der VW-Käfer von einer Patrouille rüde angehalten. Scheichbrein wundert sich. Bisher sind alle Milizionäre an den Straßensperren freundlich gewesen. Als die Soldaten sehen, dass er nur Medikamente und keine Waffen geladen hat, lassen sie ihn weiterfahren. Trotz der Dunkelheit kann er im Rückspigel erkennen, dass es eine russische Patrouille war, die er passiert hat.
Im Morgengrauen trifft er in Budapest ein. Abgerissene Lichtleitungen und Straßenbahnoberleitungen liegen auf dem Boden, Splitter von Geschoßen und Glas übersäen die aufgebrochenen Straßen. „Ich betrachte es rückblickend als ein Wunder, dass ich auf dieser Fahrt keinen einzigen Patschen gehabt habe", sagt Karl Scheichbrein. 1991 stehen wir vor einem Gebäude, das 1956 das Haus der Kommunistischen Partei war - und lichterloh brannte. Ein Zug an der Pfeife, ein Blick nach oben. „Heute ist das so friedlich hier. Ich komme mir fast vor wie in Wien."
Ohne taugliche Papiere ist Scheichbrein in einem österreichischen Auto durch Bürgerkriegsgebiet unterwegs, das gerade von einer fremden Macht besetzt wird. Er atmet tief durch, als er Hegyeshalom erreicht. Dort ist allerdings Endstation. Ungarische Zöllner mit roten Armbinden richten ihre Waffen auf ihn und nehmen ihn fest. Scheichbrein staunt - der Kommandant ist eben jener Milizionär, der ihn bei seiner ersten Fahrt nach Györ begleitet hat. Nur die Farbe seiner Armbinde hat sich geändert. „Wir gingen in den ersten Stock, zum sogenannten Vernehmungszimmer. Doch wir gingen daran vorbei, weiter, und am Ende eines langen Ganges wieder über eine Stiege hinunter. Der Kommandant begleitete mich bis zum Haustor und sagte: ,Da steht Dein Wagen! Steig schnell ein und verschwinde!'
5. November. Alles ist zu Ende. Tausende von Flüchtlingen strömen über die Grenze nach Österreich. Starjournalist Heinz Fischer-Karwin gibt für Radio Wien seine letzte Reportage durch: „ Unbeschreibliche Szenen haben sich in den letzten Stunden vor dem Zollamt von Klingenbach abgespielt. Menschen, die hier eintrafen... aus allen Schichten, von Universitätsprofessoren bis zu Landarbeitern, Fabriksarbeitern und Eisenbahnern, die in den verschiedensten Fahrzeugen ankamen. Es gehört wohl zu den erschütterndsten Erlebnissen eines Reporters, das mit ansehen zu müssen..."
Karl Scheichbrein stirbt Ende der 90er Jahre. Denkmal hat er bis heute keines bekommen.
Reportage von Martin Haidinger, geboren 1969, Historiker, Radiojournalist in der Ö1-Wissenschaftsredaktion und für den Deutschlandfunk Köln, Schriftsteller, lebt und arbeitet in Wien.