Hans Thomas Wolf Rhenaniae Würzburg, Franconiae München
CORPS - Das Magazin, Ausgabe 4/2023
Vor 60 Jahren ereignete sich eines der größten Grubenunglücke in der Geschichte des deutschen Bergbaus. Die anschließende Rettungsaktion ist bis heute als das „Wunder von Lengede“ präsent. An entscheidender Stelle wirkte damals ein Corpsstudent: Bergwerksdirektor Rudolf Stein III Franconiae München.
Wer heute irgendwo im Nirgendwo zwischen Hildesheim und Braunschweig durch das Städtchen Lengede fährt, kommt wohl kaum auf die Idee, dass dieser Ort weltweites Interesse auf sich ziehen könnte. Mit seinen sauberen Einfamilienhäusern und ordentlichen Vorgärten wirkt er eher unspektakulär. Und doch waren vor ziemlich genau 60 Jahren die Augen der ganzen Welt auf Lengede gerichtet, rund 400 Journalisten aus dem In- und Ausland strömten hier zusammen, und deutsche Fernsehteams kämpften mit Kollegen aus ganz Europa, den USA, Israel und sogar aus Japan um die besten Kamera- und Sendeplätze.
Der Auslöser dieser globalen Aufmerksamkeit war freilich ein tragischer: eines der größten Grubenunglücke in der Geschichte des deutschen Bergbaus und die anschließende, fast zwei Wochen dauernde Rettungsaktion – die sich als das „Wunder von Lengede“ ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland eingebrannt hat. Mitten im Zentrum der Ereignisse stand damals ein Corpsstudent: Rudolf Stein III Franconiae München, zum Zeitpunkt des Unglücks Vorstandsmitglied des Bergbaukonzerns Ilseder Hütte AG, der Muttergesellschaft der Grube in Lengede. Obwohl nach dem Buchstaben des Gesetzes eigentlich die Bergbaubehörde für die Rettungsarbeiten zuständig gewesen wäre, übernahm Stein – für ihn selbstverständlich – die Leitung und Verantwortung vor Ort. Für alle Außenstehenden fungierte er in diesen dramatischen Tagen als Ansprechpartner, vor allem für die deutsche und internationale Presse, und hielt dadurch den Rettungskräften – soweit eben möglich – den Rücken frei. Nach innen koordinierte er die Suchaktionen, Bohrungen, die technischen und logistischen Maßnahmen und war unermüdlich als Bindeglied zwischen Gruben- und Konzernleitung, den Rettungstrupps und Sanitätskräften tätig.
Am 24. Oktober 1963, einem Donnerstag, bricht kurz nach 20 Uhr in der Erzgrube Mathilde in Lengede eine Dämmwand zu einem erst kurz vorher fertiggestellten Klärteich. Mit Urgewalt stürzen fast 500.000 Kubikmeter Wasser, Schlamm und Geröll in das verzweigte Stollensystem. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich noch 129 Bergleute unter Tage, ihre Schicht neigt sich dem Ende zu, sie bereiten sich aufs Ausfahren vor, und viele schmieden bereits Pläne fürs bevorstehende Wochenende. Doch nun wird für sie der Albtraum aller Bergleute furchtbare Realität: Die gewaltigen Wasser- und Gesteinsmassen überfluten mit rasender Geschwindigkeit und ungeheurem Druck die Schächte, blockieren die Ausgänge, Beleuchtungs- und Belüftungssysteme fallen aus. Trotzdem gelingt es 79 Kumpeln, sich aus eigener Kraft unmittelbar nach der Katastrophe noch ins Freie zu retten. 50 Bergmänner bleiben weiter unter Tage.
Bergwerksdirektor Rudolf Stein befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Aachen. Der familiär vorbelastete „Bergmann mit Leib und Seele“, der in München, wo er bei Franconia aktiv gewesen war, und Berlin studiert hatte, ist seit Langem in führenden Positionen des deutschen Eisenerzbergbaus tätig. Seit Anfang 1962 amtiert er als Mitglied des Vorstands der Ilseder Hütte AG, eines vorwiegend in der Region Peine tätigen Bergbaukonzerns, zu dem neben etlichen Zechen und Hüttenwerken auch die Erzgrube Mathilde in Lengede gehört. Sofort nach Erhalt der Katastrophennachricht macht sich Stein noch in der Nacht – in seinem Karmann-Ghia, wie ein investigatives Hamburger Nachrichtenmagazin später berichten wird – auf den Weg und erreicht nach fünfstündiger Fahrt den Unglücksort. Unverzüglich verschafft er sich ein Bild von der Lage und übernimmt die Leitung und Koordination der Rettungsarbeiten. Noch in der Nacht versammelt Stein einen Krisenstab, und man legt anhand der Karten des Stollensystems die Stellen fest, an denen mittels Bohrungen nach Verschütteten gesucht werden soll. Schon am Vormittag hat die erste dieser Bohrungen Erfolg: In einem Hohlraum nahe beim Hauptschacht hatten sich sieben Hauer vor den Fluten vorübergehend in Sicherheit bringen können. Unverzüglich werden weitere Rettungsbohrungen niedergebracht und aus dem Ruhrgebiet spezielle Rettungs-„Bomben“ angefordert, die auch sofort abgesandt werden – da gelingt es vier Bergleuten, die auf eigene Faust in den Stollen vordringen, ihre Kumpel mit einem selbst gebauten Floss ins Freie zu bringen. 43 Bergmänner bleiben weiter unter Tage.
Etliche andere Suchbohrungen bleiben erfolglos, doch am Abend des 26. Oktober entdecken die Rettungskräfte in 79 Meter Tiefe erneut Überlebende: drei Kumpel in einer großen Luftblase, die unter Überdruck steht. Mit enormem Einsatz an Mensch und Material – Techniker und Ärzte aus dem gesamten Bundesgebiet und dem europäischen Ausland eilen herbei, spezielle Bohrtechnik,
Unterdruckkammern, Kommunikationsgerät werden herangeschafft – läuft eine äußerst komplizierte Rettungsaktionen an. Und hat Erfolg: Am Vormittag des 27. Oktober sehen die drei Geretteten wieder das Tageslicht. 40 Bergmänner bleiben weiter unter Tage.
Wiederum enden einige Suchbohrungen ergebnislos, die Hoffnung, noch Überlebende zu finden sinkt mit jeder Stunde. Dennoch wird
eine erneute Bohraktion gestartet: Am 2. November, einem Samstag, hatten einige Hauer dem Direktor des Bergwerks Lengede berichtet, mehrere Überlebende könnten sich in einen sogenannten Alten Mann, einen aufgegebenen Stollen, der nicht mehr abgestützt und daher permanent einsturzgefährdet ist, geflüchtet haben. Der Grubendirektor teilt diese Vermutung abends Rudolf Stein mit – und der ordnet sofort eine neue Bohrung an. Die für Montag, den 4. November, angesetzte offizielle Trauerfeier für die Opfer wird wieder abgesagt.
Was folgt, ist eine der spektakulärsten Rettungsaktionen der Bergbaugeschichte und gleichzeitig auch ein Lehrstück, dass der Erfolg menschlichen Tuns nicht nur von Planung, sondern ebenso vom Zufall abhängt. Der von den Experten berechnete Punkt für die Bohrung liegt auf den Gleisen der Grubenbahn; die Bohrung wird folglich mit einigem Abstand zum eigentlichen Ausgangspunkt niedergebracht – und genau deshalb treffen die Retter den „alten Mann“. Trotz des extrem brüchigen und mürben Gesteins bricht der aufgelassene Schacht nicht zusammen, und so geschieht, was niemand für möglich gehalten hatte: Als die Retter durch das Bohrgestänge Klopfsignale senden, kommt aus der Tiefe plötzlich Antwort. Tatsächlich hatten sich direkt nach dem Schlammund Wassereinbruch insgesamt 22 Bergleute in den verlassenen Stollen gerettet. Bei völliger Dunkelheit, ohne Nahrung oder sauberes Wasser, konnten elf von ihnen bis zu diesem Tag durchhalten. Die anderen elf hatten während dieses Martyriums den Tod gefunden, waren verdurstet, ihren Verletzungen erlegen oder durch herabstürzende Gesteinsplatten erschlagen worden.
Gerettet sind die Überlebenden damit freilich noch nicht. Mit eilig herbeigeschafftem Großgerät wird ein verbreiterter Rettungsschacht gebohrt, die Verschütteten sollen mit einer Dahlbusch-Bombe, einem patronenförmigen Zylinder, der gerade genug Platz für eine Person bietet, nach oben gehievt werden. Bis es so weit ist, versorgt man die Kumpel durch einen gesonderten Schacht mit Taschenlampen, Trinkwasser und Lebensmitteln. Via Bildschirm nimmt die ganze Nation Anteil am Schicksal der Eingeschlossenen und verfolgt jeden Schritt der Bergungsmannschaften. Nun erscheint auch die hohe Politik in Gestalt des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard am Unglücksort und spricht durch die installierte Funkverbindung den „lieben Landsleuten“ Mut zu. Und nicht nur die Deutschen harren gebannt vor den Fernsehgeräten aus, buchstäblich die ganze Welt bangt mit den Bergleuten im „alten Mann“. Am 7. November, einem Donnerstag, fast 230 Stunden nach der Katastrophe, werden alle Mühen belohnt: Binnen einer Stunde bergen die Rettungskräfte alle noch lebenden Verschütteten. Doch 29 Bergleute bleiben endgültig unter Tage.
Es sind diese 29 Todesopfer, die Rudolf Stein nur sehr verhalten in die Freude über die gelungene Rettung einstimmen lassen. Ohnehin ist der eher introvertierte, nachdenkliche Bergassessor kein Typ für lauten Jubel. Als tiefgläubiger Christ – in französischer Kriegsgefangenschaft hatte er sogar den Lagerpastor als Hilfsgeistlicher unterstützt – hat er sich stets bis an den Rand der körperlichen und geistigen Erschöpfung für die Verschütteten und deren Angehörige eingesetzt. Auch Anfeindungen, die insbesondere von der Boulevardpresse gegen ihn als den Repräsentanten der „Grubenbarone“ vorgebracht wurden, gingen wohl nicht spurlos an Stein vorüber. So hat der „Held von Lengede“ das Licht der Öffentlichkeit eher gemieden als gesucht.
Die damalige Berichterstattung der deutschen Medien, egal ob öffentlichrechtlich oder privat, bleibt ein Thema für sich. Framing und Tendenzjournalismus führten schon damals vielen Reportern und Meinungsmachern die Federn und Mikrofone. Viele Artikel und Kommentare folgen sturheil einem Muster, einem „Narrativ“: hier die ausbeuterischen Bergwerksgesellschaften, die nur die Profitmaximierung interessiert, dort die Kumpel, die unter Tage für die Bosse schuften. Auch die Praktiken des Boulevards waren 1963 bereits die gleichen wie heutzutage: Da erdichten Journalisten rührende, aber völlig frei erfundene Aussagen von Witwen der Verschütteten, andere gönnen den gerade erst einem grausigen Schicksal entronnenen Bergmännern auf der Jagd nach „Exklusivberichten“ keine Minute der Ruhe, und Illustrierte bieten hohe Summen für möglichst knallige Aussagen. Einige Fotoreporter sollen sogar versucht haben, einen wildfremden Hund an einem Bohrloch schnüffeln zu lassen – Motto: „Treues Tier sucht Herrchen“. Hinterbliebene und Überlebende kommentierten später entstandene Dokumentationen über das Geschehen mit Worten wie „Frei erfunden“ und „So war das gar nicht“ – Relotiaden gab’s wohl schon lange, bevor ihr Namensgeber geboren wurde.
Rudolf Stein ist freilich durchaus auch Gerechtigkeit widerfahren. So schrieb die Frankfurter Zeitung nach dem glücklichen Ende der Suchaktionen: „Er war bei der Einsatzleitung, bei den Journalisten, verlor die Fassung nicht, als er beschuldigt wurde, führte Minister und Sachverständige, stand auf deutsch, englisch und französisch Rede und Antwort. Stein war für alle so etwas wie ein Fels in der Brandung der Gefühle.“ Und die Welt zog Bilanz: „Der Mann, dem aller Achtung galt, das Vorbild, an dem jeder sich maß: der Direktor Stein, Vorstandsmitglied der Ilseder Hütte.“ Dass Rudolf Stein Vorbild war, durften auch seine Corpsbrüder in München erleben: In schwieriger Zeit übernahm Stein den Altherrenvorsitz und hielt das Corps auf Kurs. 1986, zum 150. Stiftungsfest, verlieh Franconia dem damals 74-Jährigen denn auch die Ehrenmitgliedschaft. Nur ein Jahr später erlag Rudolf Stein in seiner Heimatstadt Recklinghausen einem mit großer Geduld und Fassung ertragenen Leiden.