Dr. Thomas Fasbender Borussiae Bonn
CORPS - Das Magazin Ausgabe 1/2021
Nichtregierungsorganisation, akademische Selbstverwaltung, Männerbund, Geheimgesellschaft, Bürgerwehr und Bürgerschreck, Hort des Aufruhrs und des Widerstands - und das sind noch nicht alle Attribute, Ehren- und Schandtitel, derer sich die Corps auf ihrem Weg von den Nationes der lateinischen Universitäten über die alten Landsmannschaften zum Exotikum an der postmodernen Massenuniversität rühmen dürfen. Der Schock von 1968 ist überwunden, doch er steckt in den Knochen. Die Generation Z sitzt in den Auditorien, die Erstsemester verwirrt wie alle Erstsemester zuvor. Neues liegt in der Luft, darunter Herausforderungen, denen die bewährten Rezepte nicht gewachsen scheinen. Zweifel auch, vor allem Selbstzweifel: am alten weißen Mann, am Sinn und Unsinn der europäischen Zivilisation, an den Rollenbildern in der Gesellschaft. Und das Gefühl, dass Staat und Gesellschaft zerrütten, dass die hochkomplexe Infrastruktur, die unseren Alltag wie auf Wolken trägt, allmählich brüchig wird.
Was stand am Anfang vor 800 Jahren? Die Wissbegier. Schier ungeheuer, was die heimkehrenden Kreuzritter mitbringen: Kenntnisse aus fernen Welten, von fremden Menschen und Tieren, nie gesehenes Textil, die Kunst der Destillation, die Ziffer Null, die arabischen Übersetzungen der alten Griechen. Das Klima ist günstig; mit den Feldzügen kommen Beute und Geld ins Land; Handel, Handwerk, Verkehr und Landwirtschaft blühen. Die Flotten der Venezianer und Genueser befördern, was das Zeug hält: Krieger, Händler und Waren. Die Höfe von London bis Palermo, die italienischen Stadtrepubliken, alles schreit nach Nachwuchs. Es ist die Geburtsstunde der europäischen Universität.
Die ersten sind lupenreine Start-ups. Scholaren und Magister entwickeln Businesspläne und überzeugen Seed-Investoren - Kirchenfürsten, reiche Städte, eitle Prinzen. Die Geschäftsmodelle ähneln sich: Theologie, Jurisprudenz, Medizin und die sieben freien Künste, aus denen bald die Mathematik hervorgeht. Die Studenten organisieren sich in Nationes, meist sind es vier nach dem Vorbild der Himmelsrichtungen, so in Paris, Wien, Prag und Heidelberg, bald auch in Leipzig und Königsberg. In Prag gibt es böhmische, bayerische, sächsische und polnische Nationes. Den beiden deutschen gebührt das Recht, Notare zu ernennen, Waffen zu tragen und uneheliche Kinder zu legitimieren.
Die Mitgliedschaft in einer Nation ist obligatorisch. Im Übrigen diktiert der gesunde Menschenverstand, dass man sich an fremdem Ort ein schützendes Dach sucht. Es sind Zweckgemeinschaften, die dem physischen Überleben so dienen wie der Teilhabe am akademischen Prozess, etwa durch die Wahl der Professoren. Von Lebensbund kann noch keine Rede sein.
Soweit die Start-up Phase. Bald konsolidieren die Professoren ihre Macht in unnahbaren Fakultäten. Die Studenten verlieren an Einfluss, die Nationes werden ins Private gedrängt. Die alten Landsmannschaften entstehen. Das ungebundene, wild-freie Mittelalter wird domestiziert; der Prozess umfasst sämtliche Lebensbereiche. In England und Frankreich entstehen Zentralherrschaften, der Adel wird dem Monarchen untertan, der Student dem Professor - ganz am Ende, im protestantischen Preußen, sogar der König dem Staat.
Doch wie der Adel sich widersetzt, so auch die Studenten. Die blanke Waffe ist ihr Standesrecht, auch die eigene Universitätsgerichtsbarkeit und der Schutz vor Leib- und Körperstrafen. Da gehen den Hitzköpfen schon mal die Pferde durch. Ehre wird mit Blut verteidigt und so mancher liegt vor dem Examenstermin schon im Grab. Der Konflikt mit der Obrigkeit, meist in Gestalt des Universitätspedells oder kleinstädtischer Biedermänner, wird zum Markenzeichen streitbarer Studiosi.
Es ist eine kleinteilige Welt, wie sie uns noch in Goethes Frankfurt begegnet. Das Reich mit seinen Duodezfürsten und Unmittelbarkeiten wird zur Blaupause studentischer Selbstorganisation. Wie mit dem Storchenschnabel gezeichnet, bis ins Schnurrige partikular in den Mauern eines krähwinkligen Universitätsstädtchens von 8.000 Einwohnern, beschreibt die Studentenschaft ein Bild des Reichs im Kleinen: all das Besondere, das Eigene und dass Trennende, die Rechte, Ansprüche und Prärogative, alles gekennzeichnet von einem hohen Maß an Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Eine Realität wie ein Wimmelbild, zäh und nachhaltig über Jahrhunderte hinweg.
Über 200 Jahre Corps: selbstbewusst anders sein. Oben: Pauktag auf der Rudelsburg und eine in die Jahre gekommene Corps-Kampagne. Links: Wilhelm von Preußen Borussiae Bonn und Fritz-Dietlof von der Schulenburg. Untern: Couleurpostkarte von Georg Mühlberg und eine launische Karikatur aus dem Simplicissimus.
Doch dann, spät im 18. Jahrhundert, zeigt diese Wirklichkeit Risse, bricht schließlich unter dem Druck einer neuen Zeit, eines wieder neuen Wissens, unter dem Diktat der Ökonomie und der neuen Produktionsverhältnisse. Und obwohl die gesellschaftliche Ordnung (noch) in den Fugen bleibt, durchlebt die Studentenschaft einen tiefgreifenden Strukturwandel. Die alten Landsmannschaften werden komplett entsorgt. An ihrer Stelle entstehen, Onoldia 1798 vorweg, die Corps. Deren Lebenspraxis erinnert an die grob behauenen Vorgängerinnen, doch in ihren Geist ziehen das Bildungsideal und der deutsche Idealismus ein. Als Werkzeuge des hegelschen Weltgeists werden die Corps "vernünftig".
War das alte Leben ein Werden und Vergehen, so ersehnt das neue Leben seine Zukunft in der Welt, nicht im Jenseits. Damit ist auch der Fortschritt geboren. Wo Schicksal und Fügung wirkten, wird jetzt Vervollkommnung erstrebt. Die kann sich auf alles richten: Sittliches, Geistiges oder Nationales. Die Revolution in Frankreich besiegelt die Macht des Bürgertums, und das lebt anders als die Feudalherren nicht vom Territorium, sondern von Handel und Wandel, zumal vom internationalen Verkehr. Dem alten Reich folgt der Rheinbund. Größere Räume entstehen, Grenzsteine und Schlagbäume werden geschleift. In den Freiheitskriegen dann die allmähliche Besinnung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Nation. Eine Phalanx gegen die linksrheinischen Fremden hatte es seit Hermann dem Cherusker nicht gegeben. Der deutsche Bund läutet ein euphorisches Jahrhundert ein, das neue Reich 1871 rundet es ab.
Die Identitäten, die das Verbindungswesen über Jahrhunderte prägten, gerinnen zur Nostalgie. Alles Landsmannschaftliche rückt in den Hintergrund, und den Corps erwächst vitale Konkurrenz in Gestalt der Burschenschaft. In der Folge werden die Corps zum Hort unpolitischer Freuden und wohlbestallter Bürgerlichkeit, in Teilen wohl auch, politisch wirkungslos, zum Auffangbecken der Reaktion. Bis zum Verbot im Kollektivismus der Nazizeit bleibt die Mitgliedschaft ein Statussymbol der staats-, wirtschafts- und gesellschaftstragenden Schichten. Doch ihr Charakter wandelt sich zu dem eines privaten Lebensbunds. Noch wird Farbe bekannt und werden Farben getragen, noch geben die Corps der Universität Gepränge und dem Staat tüchtige, einsatzbereite Bürger und Offiziere. Es ist die Kaiserzeit mit ihrer betonten Hochschätzung klassischer Bildung, der Wissenschaft und des Ingenieurwesens, der historisierenden Leidenschaft für das Mittelalter, aber auch mit der ihr eigenen Männer-, Militär- und Bierseligkeit, die eine letzte, intensive Blüte des studentischen Verbindungswesen einleitet.
Der Nationalsozialismus, der sich in vielem als Anfang und Aufbruch verstand, wenn nicht gar als revolutionär, war vor allem ein Ende. Mit ihm ging nicht nur der deutsche Nationalismus unter. Die Leichtigkeit, mit der ein Dichter zuvor schreiben konnte: "Ich hatte einst ein schönes Vaterland (...) das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch (man glaubt es kaum wie gut es klang) das Wort: 'Ich liebe dich'" - Diese Leichtigkeit ist auf unabsehbare Zeit verloren. Dass der Dichter obendrein ein Jude war, lässt den Verlust doppelt schmerzen.
Im 21.Jahrhundert wird die nachwachsende Generation in eine Welt hineingeworfen, die aus atomisierten Individuen und einer fast unterschiedslosen Masse besteht. Über die Hälfte eines Jahrgangs erwirbt die Hochschulreife, knapp ein Drittel einen Hochschulgrad. Einst ein elitenprägendes Nadelöhr, ist das Studium heute banale Berufsausbildung. Auch die gesellschaftlichen Stände, die noch in der Nachkriegszeit wirkten, haben keine Bedeutung mehr. Mit dem Wegfall der Zugangsbeschränkungen sinkt der Wert der Zugehörigkeit. Status ist mit wenigen Ausnahmen frei verkäuflich, das Bürgertum auf Fassade oder Lifestyle reduziert.
Auch in der kulturellen Wertschätzung spiegeln sich die Veränderungen. Trash und Pop haben die einstige Hochkultur an Macht und Einfluss abgehängt, generieren ein Vielfaches an Umsatz. Lange bevor der Populismus zum politischen Phänomen wurde, hat er die Kultur erobert. Das entbundene Individuum, frei und hilflos, und die anonyme Masse, subjekt- und gestaltlos, sind die beiden Säulen unserer Gesellschaft. Nur schweben sie nicht unkontrolliert im luftleeren Raum. Sie werden moderiert, und als Moderator agiert die durchaus sehr mächtige öffentliche Meinung. Sie unterhält ein Magnetfeld aus Plus- und Minuspolen, zwischen dessen Kraftlinien jeder von uns mit seinen persönlichen Anschauungen, Neigungen und Meinungen durchs Leben navigiert.
Die Studentenverbindungen, die heute noch ein Prozent der Studierenden vereinen, gehören zur Zivilgesellschaft: eine freiwillige, gemeinsame Aktivität im Raum zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Zur Zivilgesellschaft hat die öffentliche Meinung ein ambivalentes Verhältnis. Jeder Zusammenschluss birgt das Potential von Gegenmacht, erst recht, wenn die Maximen des Zusammenschlusses mit den Kraftlinien des erwähnten Magnetfelds kollidieren. Nehmen wir das Beispiel exklusiver Männerbünde, zu deren Aufnahmebedingungen bewaffnete Zweikämpfe und die Bereitschaft zu maßlosem Konsum gesundheitsgefährdender Getränke gehören. Die Tatbestände der Frauen- und Menschenverachtung sind sofort erfüllt, weitere können nachgereicht werden.
Was ironisch klingt, hat einen bitteren Kern. Mit dem Verschwinden des Bürgers verschwindet auch der bürgerliche Freiheitsanspruch. Freiheit ist Auslegungssache; sie läßt sich biegen und vergewaltigen (erinnert sei an die Inschriften über Zwangslagern unserer Vergangenheit). Schon der Freiheitsbegriff 2021 ist ein anderer als vor 50 oder 100 Jahren. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Verbindungsgegner in nicht allzuferner Zukunft ernsthaft darangehen, das Mensurverbot ebenso wie die Aufnahme weiblicher Mitglieder verfassungsrechtlich durchzusetzen.
Das wäre nicht das erste Mal, dass man den Studentenverbindungen den Garaus machen will. Die Versuche, zuletzt erfolgreich nach 1933, wurden angesprochen. Wer immer solche Verbote ausspricht, hängt der gleichen Überzeugung an: dem Zeitgeist zu seinem Recht zu verhelfen. Das wird beim nächsten Mal nicht anders sein.
Doch selbst ein mögliches Verbot (oder Zwang zur Selbstmarginalisierung) ist nicht die größte Bedrohung. Die liegt nämlich darin, dass und in postmodernen Gesellschaften jeder Sinn für reale Gefahren abhandenkommt. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit, die materielle Fülle des Privaten ... was bedroht uns hinter der bürgerlichen Fassade? Zudem sind wir müde, resigniert, weil dem vermeintlichen Niedergang sowieso nichts entgegenzusetzen ist. Die Burschenschaften mit ihrem traditionell politischen Bewusstsein sind da schon eher gefeit; deren Risiko liegt darin, dass sie sich in ihrer Totalablehnung der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen vergraben. Für die Corps, die noch niemals einem negierenden Prinzip anhingen, ist das keine Option.
Die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist bleibt auch den Corps nicht erspart - wenn sie nicht wollen, dass er sie überrollt. Mit dem Abgang der Achtundsechziger geht ein halbes Jahrhundert zu Ende, das einschneidende Veränderungen gebracht hat - neben vielem Begrüßungswerten leider auch einen moralischen Kanon, der zum Missbrauch einlädt. Wir sehen das an der unseligen Cancel Culture an den angelsächsischen, aber auch deutschen Universitäten. An dem enger werdenden Meinungskorridor der staatstragenden Medien und dem Rückzug Andersdenkender in die schützenden Räume des Privaten. Eine Wertediktatur im Namen der Menschlichkeit, des Klimas, der Umwelt, Gesundheit und so fort ist inzwischen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Damit wird die Ablösung des bürgerlichen Freiheitsbegriffs nach 250 Jahren zur realen Perspektive. Studentenverbindungen werden diesen Prozess nicht aufhalten. Sie können sich aber darauf besinnen, was sie jahrhundertelang bereits waren: Schutzschild und Hort im Widerstand gegen übergriffige Obrigkeiten. Eine Vielzahl von Indikatoren deutet an, dass wir an einer Epochenschwelle stehen. Die beschriebene Entwicklung betrifft absehbar die nächsten zwei, drei Jahrzehnte. In dieser Zeit wird es für die Corps entscheidend sein, dass Aktive und Alte Herren zivilgesellschaftliches Bewusstsein und den Geist individueller Freiheit leben, hinter der bürgerlichen Fassade hervortreten und die eigenen Überzeugungen auch in der Konfrontation verteidigen. Das beginnt bei der Auswahl der Spefüchse. Dann kommt es eben darauf an, unter hundert den einen zu finden, der nicht nur saufen kann, sondern auch die Berufung spürt, gemeinsam für die Freiheiten der studentischen Tradition einzutreten.